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NEUES THEMA11.08.2017, 15:17 Uhr
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FPeregrin

• Vor 25 Jahren: Pogrom von Rostock-Lichtenhagen In der UZ von heute: Die gewollte Eskalation, womit an das Pogrom von Rostock-Lichtenhagen 1992 erinnert wird sowie an die u.a. damit gestrickte Einschränkung des Asylrechts durch CDU, CSU, FDP und SPD im Dezember desselben Jahres. Die Zielgerichtetheit des Handels der herrschenden Klasse ist damals ebenfalls durchaus wahrgenommen worden. Daher halte ich folgenden Passus zumindest für zu schwach formuliert: "Im August 1992 waren bis zu 300 Personen, vorwiegend Roma aus Rumänien, gezwungen, auf der Rasenfläche vor der Wohnanlage zu campieren, da die Aufnahmekapazität der ZAst überschritten war und es den Verantwortlichen über Wochen hinweg nicht gelang, geeignete Unterbringungsmöglichkeiten zu organisieren. Dies sorgte für eine aggresive Stimmung gegenüber den Asylsuchenden, die bewusst in Kauf genommen wurde."

Es sollte gar nicht "gelingen", geeignete Unterbringungsmöglichkeiten zu organisieren; die aggressive Stimmung wurde nicht in Kauf genommen, sondern gezielt provoziert, um a) natürlich das Asylrecht abbauen zu können, aber auch um b) die Ossis als rassistisch stigmatieren zu können: Die Pogrome von Rostock und Hoyerswerda erfreuten sich ziemlicher medialer Aufmerksam, das von Mannheim wurde vollständig unter den Tisch gekehrt, was mir als Nachweis reicht und mir als Zeitzeugen auch damals gereicht hat.

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NEUER BEITRAG12.08.2017, 13:29 Uhr
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mischa

Vor 25 Jahren: Pogrom von Rostock-Lichtenhagen Der SDAJ-Artikel beachtet zwei Aspekte zu wenig bzw garnicht:

a) daß die Situation vor Ort bewußt hergestellt wurde - vor, während und nach dem Pogromhöhepunkt.
b) das völlige Versagen der abertausenden ehemaligen SED-Mitglieder, die im Einzugsbereich des Pogroms lebten.

Nun kann man das vielleicht auch nicht von jungen Genossinnen und Genossen erwarten. Also lieber dieser Artikel als garkein Artikel.

NEUER BEITRAG13.08.2017, 15:19 Uhr
EDIT: FPeregrin
21.11.2022, 01:57 Uhr
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FPeregrin

Vor 25 Jahren: Pogrom von Rostock-Lichtenhagen Punkt a) ist der springende Punkt (ich hatte das ja auch schon): Es war ein bewußt - auch medial - inszeniertes Pogrom! Wenn man in einem Viertel wie Lichtenhagen Migranten zwingt, auf den Rasenflächen zu hausen und in die Hauseingänge scheißen zu müssen, ist berechenbar, was passiert. Wenn man dann Kameras draufhält, auch der Rest.

Und das Kalkül ist seinerzeit fast restlos aufgegangen: Man konnte einerseits das Asylrecht bis zur Unkenntlichkeit einschränken. Anderseits dürfen wir die desorientierende Wirkung auf die politische Linke nicht unterschätzen. Wurde der Inszenierungscharakter in der Regel nicht erkannt - man kannte ja eher das Muster des Totschweigens rechter Gewalt -, war für die West-Linke der Weg in einen - letztlich in das antideutsche Irresein einmündenden - "Nur-Antifaschismus" geöffnet, der Klassenkämpfe im Allgemeinen und die im Zusammenhang mit der Abwicklung des Ostens im Besonderen zum Nicht-Thema werden ließ. Das von Mischa richtig konstatierte Total-Versagen der ehem. SED-Mitglieder in Lichtenhagen und umzu kann mit dem generellen Problem der zu großen ML-Massenpartei zu tun haben, aber auch mit einem dem west-linken Reflex komplementären Ost-Reflex zu tun haben: "Die Wessis wollen uns hier nur wieder was unterschieben!" Ich kann aber letzteres nicht einschätzen. Daß aber das Pogrom von Lichtenhagen maßgeblich zur Desorientierung und Spaltung der Linken und ihres objektiven Potentials beigetragen hat, läßt sich wohl kaum bestreiten. Es dürfte ebenfalls zu Kalkül gehört haben.

Wozu der Zarismus noch Haufen von Schwarzhundertern brauchte, genügten dem deutschen Imperialismus einige Kamerateams.

P.S.: Dies hat Auswirkung auf die politische Alltagskultur bis heute: Die so traditionelle wie objektiv überflüssige Fan-Feindschaft zwischen FC St. Pauli und F.C. Hansa Rostock geht z.B. nicht zuletzt auf die erfolgreiche Inszenierung des Pogroms von Lichtenhagen zurück.

NEUER BEITRAG14.08.2017, 21:24 Uhr
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mischa

Vor 25 Jahren: Pogrom von Rostock-Lichtenhagen "Die Wessis wollen uns hier nur wieder was unterschieben!"

Mir ist nicht ganz klar, warum man als "Ossi" in Rostock-Lichtenhagen VertragsarbeiterInnen aus dem sozialistischen Vietnam, die seit 1977 dort wohnten, anzünden möchte, weil man was gegen "Wessis" hat. War aber vielleicht auch nur ein Versehen, weil man eigentlich (in guter deutscher Tradition) die Roma töten wollte.

Ob die EX-SEDler klammheimlich mit dem Mob sympathisierten oder nur zu feige waren, sich ihm in dem Weg zu stellen oder auf den Befehl von oben wartetet oder den Charakter des neuen deutschen Staatsapparates abwartenderweise tagelang verkannten - das weiss ich nicht. Ich weiß, daß die DDR das Beste war, was die Arbeiterbewegung in Deutschland (jaja, mit sowjetischer Unterstützung) hervorgebracht hat.

1989 wurde diese Klasse gewogen - und für zu leicht befunden, als daß sie hätte herrschen können. 1992 gabs dann noch mit Lichtenhagen den Bankrott in der Opposition. Grausam!
NEUER BEITRAG15.08.2017, 12:10 Uhr
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smersch

Vor 25 Jahren: Pogrom von Rostock-Lichtenhagen Ich würde ja tatsächlich eher dafür plädieren, das peu à peu zu analysieren, statt es gleich wieder unter großen Schlagwörtern zu einer einzigen Verschwärungstheorie zusammen zu schustern.

Warum hat den der deutsche Imperialismus ausgerechnent beschlossen in Rostock eine Auschreitung zu provozieren?

Ist es nicht eher so, dass die Demagogen auf jeden Zug aufspringen, der sich bietet? Sie also gar nichts kreieren müssen um es für ihre Zwecke zu nutzen?

War G20 ein einziger Plot um die Rote Flora zu schließen?

Die Hetzte gegen die "Asylantenflut" lief ja in der BRD schon die ganzen 80er durch. Und da Neonazis versucht haben sich auf dem Territorium auszubreiten wurde ja noch vor dem Ende der DDR gromäulig verbreite, insbesondere von den Republikanern. Und Westnazis waren dort federführend dabei.

Dass sich die Medien auf so ein Großereignis stürzen ist wohl kaum verwunderlich und keine Beweis für einen Stamokapplan, in dem sie als simple Propagandamaschinen dor auflaufen. Mehrtägige Ausschreitungen lässt sich doch keine Medium entgehen.

Zur Polizei:

"Trotz der angekündigten Krawalle und der aufgeheizten Stimmung rund um die ZAst fuhr fast das gesamte politisch und polizeilich leitende Personal, das nach der Wende nahezu vollständig mit westdeutschen Beamten aus den Partnerländern Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen besetzt worden war, wie üblich am Freitag zu ihren Familien nach Westdeutschland. So waren am Wochenende der Ausschreitungen der Staatssekretär im Innenministerium, Klaus Baltzer, der Abteilungsleiter Öffentliche Sicherheit, Olaf von Brevern, der Abteilungsleiter für Ausländerfragen im Innenministerium und zum damaligen Zeitpunkt zugleich Ausländerbeauftragter der Landesregierung, Winfried Rusch, der Leiter des Landespolizeiamtes, Hans-Heinrich Heinsen, der Chef der Polizeidirektion Rostock, Siegfried Kordus, sowie der Einsatzleiter Jürgen Deckert nicht in Schwerin bzw. Rostock zugegen.[38] Deckert hatte die Führung an den noch in der Ausbildung befindlichen Siegfried Trottnow übergeben.[39]"

Da hat wohl insbesondere der Wesdeutsche Chauvinismus viel mit zu tun, aber anders als oben skizziert.

Wenn man noch bedenkt, dass die restlichen VoPos ja nun
1. unter völlig neuen Gesetzen und Rahmenbedingungen arbeiten müssen
2. Die allgemein Parole war, alles was ihr vorher gemacht habe war schlecht und falsch
3. Sie keine Erfahrung mit gewältätigen Ausschreitungen hatten
4. Ja keine drei Jahre vorher, die Zusammenrottung auf der Straße unter der Skandierung von deutschnationaler Parolen, von Seite des deutschen Imperialismus als urdemokratische Manifestation des Volkswillens abgefeiert wurde

finde ich es nicht so verwunderlich, dass sich die verbliebenen VoPos dachten, bevor wir da mit Gewalt räumen warten wir mal lieber ab, dass so eine Wessiimport uns versichert, dass wir nachher nicht als brutale DDR-Schergen dastehen und dann auch noch diese Jobs verlieren.

Das wie gesagt nicht als Entschuldigung, sondern als Versuch sich möglichst naiv dem Phänomen zu näheren.

Zu SED:

Naja, die war ja ein Trümmerhaufen, welcher sich u.a. durch grandioe Verantwortungsdiffuion und Ziellosigkeit auszeichnete.

Desweiteren ist es natürlich ein riesen Unterschied Kommunist inner- und außerhalb des Sozialismus zu sein. Dass sich Kommunist sein im autonomen agieren gegen Staat und Gesetz manifestieren kann, musste wohl erst noch gelernt werden.

Zuḿal sie in Rostock und MeckPomm noch relativ stark waren, also möglicherweise länger dem lange geübten Wirken in den Institutionen anhingen, als anders wo.

Und wieviele ex-SEDler hatten denn schon eine zielgerichtete Position im Wirken des neuen Gesamtdeutschland entwickelt - und versuchten nicht, sich noch illusionsbedingt konstruktiv einzubringen, Pfründe zu retten oder überhaupt mal das neue System in der Praxis zu verstehen?

Wer hatte vielleicht gerade erst für sich entdeckt, dass man mehr auf die "Stimme der Straße" hören sollte und versuchte das dort anzuwenden, statt festzustellen, dass auch "die Straße" keinesfalls frei von reaktionärer Manifestation und Einflussnahem ist - die just in jenen Zeiten dafür gescholtene SED vielleicht doch manchmal ein bisschen Recht hatte, wenn sie z.B. über den 17. Juni 1953 sprach?

Mit einer Führung wie Gysi hätte ich damals null Pfennig auf diese Organisation gewettet - die ja noch tief in der Selbsfindung war, nachdem Gysi und Co. den Laden erstmal auf den Kopf gestellt hatten. Sinnvolles agieren hätte es wohl nur unabhänig der PDS gegeben.

Aber das können Leute die schon/noch damals in der Partei waren sicherlich besser beurteilen.

Ich glaube nur, dass gerade eine Wessi-Perspektive unterschlägt, wie diffus und wenig geerdet damals noch alles war. Gerade als Kommunist. Und erst Recht als einer, der von der Karriereleiter-SED nun zu einer Straßenkampf-PDS transferiert wurde.
NEUER BEITRAG15.08.2017, 15:52 Uhr
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FPeregrin

Vor 25 Jahren: Pogrom von Rostock-Lichtenhagen Nur kurz:
"War G20 ein einziger Plot um die Rote Flora zu schließen?" - Unbenommen, daß uns mal ein Bürgerkriegsszenario vorgeführt werden sollte - Die einfache Abwägung von Aufwand und Nutzen dieses Plots sagt: "Nein!"

Damit wären wir hier:
"ausgerechnent [...] in Rostock" Das ist eine Frage, die nach einem mechanischen Determinismus à la Laplace riecht. Ein konkreter Ort wird es am Ende gewesen sein. Und zwar einer, an dem es einfach ist - wenig Aufwand, große Wirkung. Lichtenhagen war also im mindesten ein möglicher Ort. Wildcat 60 hat seinerzeit auf die Verbindung mit der Abwicklung relativ gut bezahlter Arbeitsplätze hingewiesen: Hoyerwarda - Braunkohle, Rostock - Werften. Dann wäre Rostock also sogar sehr gezielt ausgewählt worden.
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"Mehrtägige Ausschreitungen lässt sich doch keine Medium entgehen." War aber in Mannheim der Fall! Ausführliche Analyse der Vorgänge auch seinerzeit in Wildcat 60 - steht leider nicht im Netz.

Nicht nur Wildcat 60 zeigt, daß die Inszeniertheit seinerzeit durchaus wahrnehmbar war: Für die antifschistische Demo im Nachfeld war satt Lichtenhagen auch Schwerin in der Diskussion - und das war fatalerweise nicht durchsetzbar, was ich dem diffus-kleinbürgerlichen Charakter der Autonomen-Bewegung zuschreiben möchte. Nimms als Zeitzeugen-Urteil!
NEUER BEITRAG21.11.2022, 01:04 Uhr
EDIT: FPeregrin
21.11.2022, 02:02 Uhr
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FPeregrin

Vor 25 Jahren: Pogrom von Rostock-Lichtenhagen Ich meine, es ist sinnvoll, es hier einfach mal hinzustecken, denn es ist eine gelungene Revue der Situation 1992 ... auch und gerade bzgl. der Dinge, die eine große mediale Aufmerksamkeit fanden und der, die sie nicht fanden, ... aber zweifellos ebenso nützlich waren für den Hauptfeind im eigenen Land ...
ich erinnere mich noch ganz gut!

jW heute:

Pogromzeit

1992 erlebte Deutschland eine Welle rechten Terrors. Eines der Opfer: der Antifaschist und Hausbesetzer Silvio Meier, der vor 30 Jahren erstochen wurde

Von Florian Osuch

Das Jahr 1992 war ein Höhepunkt neofaschistischer Gewalt in der Bundesrepublik. In keinem anderen Jahr wurden mehr Menschen durch Rassisten, Neonazis oder andere Rechte verletzt oder getötet. Von Kiel bis Freiburg, von Aachen bis Cottbus wurden Asylsuchende und Kriegsflüchtlinge gejagt, Sinti und Roma angegriffen, Obdachlose erschlagen, Migrantinnen und Migranten in ihren Häusern verbrannt, Punks und Linke getötet. Vielfach wurden die politischen Motive der Taten bestritten. Doch selbst wenn rechtsextreme Hintergründe offensichtlich waren, wurden sie von Polizei, Justiz und etablierter Politik verschleiert.

Das rassistische Pogrom in Hoyerswerda im Sommer 1991 war der Auftakt zu einer Welle des rechten Terrors. Aus Teenagern wurden Brandstifter, wie am 3. Oktober 1991, als drei Jugendliche im Alter von 18 und 19 Jahren in Hünxe nahe Oberhausen ein Haus in Brand setzten, in dem eine libanesische Familie wohnte. Zwei Mädchen im Alter von acht und zehn Jahren wurden lebensgefährlich verletzt.

Der Brandanschlag auf eine Unterkunft für Geflüchtete in Saarlouis vom 18. September 1991 wird seit diesem Monat – 31 Jahre nach der Tat – vor Gericht verhandelt. Damals starb der 27jährige Samuel Kofi Yeboah aus Ghana. Angeklagt ist ein früherer Neonazi. Antifaschistische Gruppen aus dem Saarland hatten bereits kurz nach der Tat auf ein rassistisches Motiv und auf die lokale Neonaziszene aufmerksam gemacht. Interessiert hat das viele Jahre niemanden.

An die wenigsten Getöteten wird erinnert. Die Überlebenden der Anschläge, die Verstümmelten oder Traumatisierten wurden vielfach allein gelassen. Weitgehend unbekannt ist beispielsweise auch das Schicksal einer dreiköpfigen Familie aus Sri Lanka, die am 31. Januar 1992 in einer Flüchtlingsunterkunft im südhessischen Lampertheim nahe Worms verbrannte. Ein halbes Jahr später wurden zwar drei Jugendliche festgenommen und wegen besonders schwerer Brandstiftung zu viereinhalb bis fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Einen fremdenfeindlichen Hintergrund wollte das Gericht allerdings nicht erkennen, in staatlichen Zählungen tauchen die 31jährige Mutter, der 29jährige Vater sowie ihr einjähriges Kind nicht auf.

Gesamtdeutsches Phänomen

Die Beispiele aus Saarlouis, Hünxe und Lampertheim zeigen: Der rechte Terror war ein gesamtdeutsches Phänomen, kein rein ostdeutsches, wie es damals dargestellt wurde und teilweise noch immer wird. Im Jahr 1992 ermordeten Neonazis 28 Menschen – zehn starben in Ostdeutschland und in Berlin, 18 waren es in Westdeutschland. Rechte Parteien erzielten teils beachtliche Ergebnisse. Die Deutsche Volksunion (DVU) erhielt 1992 in Schleswig-Holstein 6,3 Prozent der Stimmen. Bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg stimmten sogar 10,9 Prozent für die rechten »Republikaner«. In Westberlin erreichten die »Reps« bei den Wahlen zu den Bezirksparlamenten 9,9 Prozent, im Ostteil der Stadt waren es 5,4 Prozent der Stimmen. Trotzdem hieß es, »Rechtsextremismus« sei vornehmlich ein Problem des Ostens und ein Resultat der DDR. Es war einfach, einen untergegangenen Staat – zumal einen missliebigen – für den mörderischen Neofaschismus verantwortlich zu machen.

Neben den extrem rechten Parteien machten vor allem Politiker von CDU und CSU Stimmung gegen Asylsuchende und Kriegsflüchtlinge. Flankiert wurde die »Das-Boot-ist-voll«-Kampagne von hetzerischen Artikeln gegen »Scheinasylanten« und »Asyltouristen« in FAZ, Bild und Spiegel. Insbesondere Kriegsflüchtlingen aus dem ehemaligen Jugoslawien, darunter viele Roma, wurde ein Leben in Saus und Braus auf Staatskosten angedichtet.

In den Parlamenten waren es vor allem die Abgeordneten der PDS, die der rechten Hetze der bürgerlichen Parteien entgegentraten. So formulierte Gregor Gysi im Bundestag treffend: »Es waren Politikerinnen und Politiker, die die Begriffe von Scheinasylanten, von Flüchtlingsströmen, von Wirtschaftsflüchtlingen, vom Asylmissbrauch, von asylfreien Zonen, von Durchmischung und Durchrassung und das schlimme Wort vom Staatsnotstand in die Debatte brachten, und solche Worte zeigen Wirkung. All jene, die in der beschriebenen Art und Weise die Asyldebatte führten und führen, haben an rassistischen und ausländerfeindlichen Pogromen als intellektuelle Urheber ihren Anteil.«

Ein solches Pogrom gab es Ende Mai 1992 in Mannheim. Im Stadtteil Schönau war in einer leerstehenden Kaserne eine Unterkunft für Asylsuchende eingerichtet worden. Teile der Bevölkerung stellten sich quer. Wochenlange Hetze gegen Flüchtlinge hatte zur Folge, dass realitätsferne Bedrohungen herbeigeredet wurden. Am 26. Mai zogen rund 150 Menschen vor die Unterkunft; die gerufene Polizei verhinderte die Erstürmung des Gebäudes. Einen Tag später zogen im Anschluss an ein Stadtfest Hunderte Festbesucher erneut vor das Heim. Die Menge wuchs schnell auf mehr als 500 Menschen an und skandierte rassistische Parolen wie »Ausländer raus«. Auch an diesem Tag stand die Polizei vor der ehemaligen Kaserne – allerdings zum Zwecke des Objektschutzes. Die Staatsmacht duldete, dass über mehrere Tage Hunderte rassistische Bürger Beleidigungen, Pöbeleien und Bedrohungen vorbrachten. Den Geflüchteten riet man, das Heim nicht zu verlassen. Als der SPD-Oberbürgermeister von Mannheim sagte, er werde sich »um das Problem kümmern«, meinte er nicht den ausländerfeindlichen Mob, sondern die Bedrohten.

Rechts gleich links

Am 9. Mai 1992 wurde in Magdeburg der 23jährige Torsten Lamprecht bei einem Überfall erschlagen. Bis zu 60 rechte Skinheads stürmten das Lokal »Elbterrassen«, wo eine Gruppe von Punks Geburtstag feierte, und schlugen mit Baseballschlägern auf die Anwesenden ein. Fünf Personen wurden schwer verletzt, Lamprecht starb. In der Mitteldeutschen Zeitung war damals zu lesen, es herrsche »Krieg zwischen den rechten Glatzen und den linken Punks und Autonomen. Ein Krieg, bei dem es immer weniger auf die politische Orientierung ankommt«. Die Gleichsetzung rechter Mörderbanden mit Antifaschisten war an der Tagesordnung. Obwohl der Überfall von der Polizei beobachtet worden war, wurden nur 18 von rund 60 beteiligten Neonazis angeklagt. Die meisten Verfahren endeten mit Bewährungsstrafen oder mit dem Ableisten von Sozialstunden. Ein Haupttäter, ein 24jähriger Mann aus Wolfsburg, wurde 1995 vom Landgericht Magdeburg zu vier Jahren Haft verurteilt.

Schon wenige Tage nach dem Überfall kamen mehrere tausend Antifaschisten, darunter viele Punks, zu einem Gedenkmarsch nach Magdeburg. Auch fortan wurde des 23jährigen gedacht. Seit 2013 erinnert ein Torsten-Lamprecht-Weg an den Getöteten. Eine Mahnwache zum 30. Jahrestag des Mordes nahm der Mitteldeutsche Rundfunk zum Anlass, die Erzählung von den rivalisierenden Jugendbanden aufzuwärmen. Damals sei »kaum ein Wochenende ohne Prügeleien« vergangen, »wobei es nicht nur um Ideologien ging, sondern auch um die Vorherrschaft in bestimmten Stadtteilen«.

Vielfach waren Antifaschisten, die Gegenwehr leisteten, im weiteren Sinne mit der radikalen Linken, der Hausbesetzerbewegung und den Autonomen verbunden. Die politische Praxis bestand aus Demonstrationen, der Schaffung von Gegenöffentlichkeit mittels Flugblättern und Zeitschriften oder auch mit Veranstaltungen in Jugendklubs. Hinzu kam die direkte Konfrontation. Durch umfassende Recherchen wusste die antifaschistische Szene meist recht gut, wo sich Neonazis trafen.

Als am 4. April 1992 in Berlin-Neukölln eine Zusammenkunft rechter Funktionäre stattfand, trommelten Antifaschisten zu einer schnellen Aktion. Ohne große Vorbereitung zog man zum Versammlungsort, einem Restaurant, und überfiel die Teilnehmer. Dabei wurde einer der Anwesenden, Gerhard Kaindl von der »Deutschen Liga für Volk und Heimat«, durch Messerstiche getötet. Für die konservative Presse war klar, dass Ausländer die Tat begangen hätten. Ins Visier einer eigens eingerichteten Sonderkommission der Polizei geriet die migrantische Gruppe »Antifasist Genclik« (türkisch für Antifaschistische Jugend).

Außer bei den direkt Beteiligten geriet das Ereignis zunächst in Vergessenheit, zumal wenig später wieder Einschreiten geboten war: Neonazis moblisierten für den 1. Mai zu einem Marsch in der Stadt. Militante Antifaschisten verhinderten den Zug der neonazistischen »FAP« im Bezirk Prenzlauer Berg. Autonome Kleingruppen griffen die Neonazis immer wieder an. Protestierende Anwohner verstünden die »Unterschiede bei der Wahl der Mittel«, hieß es dazu später im Antifainfoblatt.


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NEUER BEITRAG21.11.2022, 01:07 Uhr
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FPeregrin

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Gewaltexzess in Rostock

Vollends eskalierte der rechte Terror dann im Sommer. Im Rostocker Stadtteil Lichtenhagen gab es zwischen dem 22. und 26. August 1992 rassistische Ausschreitungen vor der »Zentralen Aufnahmestelle für Asylbewerber« und dem angrenzenden Wohnheim für ehemalige Vertragsarbeiter aus Vietnam im sogenannten Sonnenblumenhaus.

Für große Teile der linken Bewegung in Deutschland war der Gewaltexzess eine völlig neue Dimension. »Dass organisierte Neonazis derartige Angriffe durchführten, war nicht neu. Dass aber Hunderte bzw. Tausende von aggressiven Bürgern und Bürgerinnen Flüchtlingsheime belagern und die Straßen dem rassistischen Mob gehören, war ausgesprochen schockierend und kaum zu ertragen.«¹

Es waren wiederum Aktive der autonomen Szene, die nach Rostock fuhren, darunter der Künstler und Aktivist »Yok Quetschenpaua«, bekannt für seine am Akkordeon begleiteten Lieder. »Wir fuhren hin, als der Mob schon tobte und im Fernsehen darüber berichtet wurde. Wir konnten nicht anders, wir mussten da hin. (…) Es gab aus unseren Reihen den Vorschlag, mit einer großen Gruppe direkt vor das Haus der angegriffenen Vietnames*innen zu ziehen und sich mit den Hackfressen zu konfrontieren. Es gab einen vehementen Fürsprecher für diese Idee, aber die meisten befürchteten, dass wir dort massiv angegriffen und verletzt werden würden. Aus heutiger Sicht glaube ich, dass es gut gewesen wäre, auf den eigenen kollektiven Mut zu setzen und entschlossen aufzutreten.«² Statt dessen verständigte man sich darauf, in kleineren Gruppen zu agieren. In der Dämmerung war allerdings schwer auszumachen, wer zu wem gehörte. »Die Stimmung vor dem Haus war gespenstisch und bedrohlich. (…) Wir schnappten uns etwas abseits hier und da ein paar Arschlöcher, aber das fühlte sich eher hilflos an. (…) Nachts formierte sich noch eine kleine linke Demo mit eindeutigen antifaschistischen Parolen. Da waren die Bullen plötzlich da, und viele wurden festgenommen.«³

Lynchstimmung im Harz

Die Ereignisse in Rostock hatten nicht zur Folge, dass Polizei, Behörden oder andere Stellen für ausreichend Schutz für Geflüchtete sorgten. »Während die bürgerlichen Parteien das rassistische Klima zusehends anheizten, sahen sich die ›Ordnungskräfte‹ auf wundersame Weise außerstande, den mordlustigen Pöbel von den Asylbewerberheimen und Sammelunterkünften ausländischer Vertragsarbeiter fernzuhalten.«⁴

Ab dem 7. September zogen Rechte in Quedlinburg vor die einzige Unterkunft für Geflüchtete in der Stadt. Dort waren 120 Menschen aus Rumänien und Bulgarien untergebracht. Mutige Quedlinburger protestierten gegen Rassismus, und auch linke Autonome waren auch aus anderen Teilen des Landes dorthin geeilt. Antifaschisten aus der Rhein-Main-Region berichteten: »Am Freitag stand eine Mahnwache von PazifistInnen unterschiedlicher Organisationen vor der Unterkunft, ausdrücklich um die Flüchtlinge zu schützen. Diese Mahnwache wurde im Laufe des Abends von der auf etwa 500 Leute angewachsenen Menge mit Steinen und Leuchtspurgeschossen angegriffen. Während des Angriffs (…) wurden ca. 30 zum Teil schon arg verletzte PazifistInnen aufgefordert, die ausländischen Frauen aus dem Heim herauszugeben: ›Wir wollen nicht, dass hier noch mehr Kanackenbrut geboren wird, wir hängen die an den nächsten Baum.‹ Es herrschte Lynchstimmung.«⁵ Die Polizei zeigte zwar Präsenz, ließ die Rechten aber weitgehend gewähren. Als am nächsten Tag eine antirassistische Demonstration durch Quedlinburg zog, war die Staatsgewalt allerdings mit erheblichem Personaleinsatz vor Ort.

Ab dem 13. September wurde eine Unterkunft für Geflüchtete in Wismar zum Ziel von Attacken. Auch darüber informierte das Antifainfoblatt: »Die Angegriffenen verteidigten sich, was den ›Volkszorn‹ von 50 Jugendlichen und AnwohnerInnen weckte. Der offene Hass der Bevölkerung schlug, wie fast überall in Deutschland, vor allen den Roma und Sinti entgegen, die schon während der NS-Herrschaft die ersten Volksgruppen waren, die in den Konzentrationslager interniert wurden.«⁶

Brand in KZ-Gedenkstätte

Am 15. September wurde an der Außenstelle des Landesaufnahmelagers des Saarlandes in Saarlouis ein Sprengsatz entschärft. Ein anonymer Anrufer hatte auf die Bombe hingewiesen, die mit einem Zeitzünder versehen war. Am 26. September verübten Neonazis einen Brandanschlag auf eine Baracke der Gedenkstätte des ehemaligen KZ Sachsenhausen in Oranienburg. Das Gebäude, in dem eine Ausstellung über die Leiden der jüdischen Häftlinge untergebracht war, wurde zerstört. Der Anschlag sorgte international für Aufsehen, auch weil nur zehn Tage zuvor der damalige Ministerpräsident von Israel, Jitzchak Rabin, die Gedenkstätte besucht hatte.

Im Herbst gab es zahlreiche antisemitische Anschläge. So wurden Gräber auf jüdischen Friedhöfen umgestoßen, unter anderem in Bad Cannstatt bei Stuttgart, Strausberg bei Berlin, Dortmund und Karlsruhe. Mancherorts wurden auch Hakenkreuze geschmiert. Am 24. Oktober verübten Neonazis einen Brandanschlag auf die KZ-Gedenkstätte Ravensbrück. Es folgten weitere Attacken auf jüdische Friedhöfe in Stuttgart, Wuppertal, Michelstadt in Südhessen und Frankfurt am Main. Meist hieß es, ein rechter Hintergrund sei nicht erwiesen, oder es handele sich um Vandalismus.

Besonders drastisch war der Fall in Dolgenbrodt im südlichen Umland von Berlin. Dort brannte es am 1. November auf dem Gelände eines ehemaligen Kinderferienlagers. Asylsuchende sollten dort untergebracht werden. Was zu diesem Zeitpunkt noch nicht bekannt war: Die Idee für das Feuer war auf einer Bürgerversammlung entstanden. Mehrere Bewohner des Ortes hatten Geld für einen Brandstifter gesammelt und später auch ein Schweigegeld bezahlt. Einige Jahre später flog alles auf, und mehrere Männer wurden verhaftet.

Die etablierte bürgerliche Politik verhielt sich zunächst passiv. CDU und SPD verhandelten bereits über eine Änderung des Asylrechts, was auf eine faktische Abschaffung dieses Grundrechts hinauslief. Am 8. November folgten dann doch 350.000 Menschen in Berlin dem Aufruf von Parteien, Kirchen und Gewerkschaften unter dem Motto »Die Würde des Menschen ist unantastbar«. Bundespräsident Richard von Weizsäcker (CDU) wurde während seiner Rede mit Eiern und Farbbeuteln beworfen, Autonome skandierten: »Heuchler, Heuchler.« Linke Gruppen, Parteien und Flüchtlingsorganisationen demonstrierten im November in Bonn für den Erhalt des Asylrechts, es kamen mehr als 150.000 Menschen.


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NEUER BEITRAG21.11.2022, 01:54 Uhr
EDIT: FPeregrin
21.11.2022, 02:11 Uhr
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FPeregrin

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Mord im U-Bahnhof

Zu einer erneuten Eskalation kam es am 21. November. Der 27jährige Antifaschist und Hausbesetzer Silvio Meier wurde am U-Bahnhof Samariterstraße im Bezirk Friedrichshain erstochen. Meier, der sich in der »Kirche von unten« engagiert hatte, war 1987 Mitorganisator des Konzerts der Westberliner Band »Element of Crime« in der Zionskirche im Bezirk Prenzlauer Berg gewesen, das von Neonazis überfallen worden war. Er und drei Freunde trafen an jenem Novemberabend auf eine Gruppe junger Leute, von denen einige aufgrund ihrer Kleidung als Rechte erkennbar waren. Die Neonazis wurden zur Rede gestellt, es kam zu einer Rangelei, und einem der Rechten wurde ein Aufnäher abgenommen. Die Sache schien zunächst erledigt. Als die beiden Gruppen wenig später am Ausgang des U-Bahnhofes erneut aufeinandertrafen, hatten die Rechten bereits Messer gezückt und griffen die Antifaschisten unvermittelt an. Silvio Meier starb, zwei Freunde wurden schwer verletzt.

Die Polizei begann noch in der Nacht des Vorfalls ihre Ermittlungen und versuchte sogleich, den Hintergrund der Tat zu verschleiern. Ein Überlebender des Überfalls schilderte dies in einem Interview: »Die erste Vernehmung wurde mit mir, zwei bis drei Stunden nachdem ich zusammengeflickt worden war, gemacht. (…) Ich hatte den Eindruck, dass sie (die Polizei, jW) von Anfang an parteiisch war.«⁷ Es sei den Beamten darum gegangen, den Mord als unpolitische Tat zu deuten. »Vor allem wollten sie aus der Welt schaffen, dass es sich um Rechtsradikale handelt.«

Da Silvio Meier und seine Freunde in den besetzten Häusern der Stadt gut vernetzt und politisch aktiv waren, gab es bereits am Folgetag eine erste Demonstration. Diese führte in den benachbarten Bezirk Lichtenberg zu einem häufig von Rechten frequentierten Jugendklub. Dort entluden sich Wut und Trauer der Anwesenden. Es war bekannt, dass im »Judith-Auer-Club« auch führende Neonazis ein- und ausgingen. Während der Demonstration wurde der Jugendklub stark beschädigt. Zwei Tage nach dem Mord kamen bereits 3.000 Menschen zu einer Gedenkdemonstration, auch weil über den Vorfall umfassend berichtet worden war. Die meisten Medien übernahmen jedoch die Version der Polizei, wonach es keinen politischen Hintergrund des Mordes gegeben habe. Andere Zeitungen gingen weiter: Sie dichteten den Antifaschisten die tödliche Waffe an und machte die Neonazis zu Opfern. Nur durch Gegenöffentlichkeit der linken Szene kam der tatsächliche Hergang ans Licht.

Mit einem Telefonanruf aus dem »Judith-Auer-Club« stellten sich zwei Rechte nach einigen Tagen der Polizei. Der zur Tatzeit 17jährige Haupttäter wurde wegen Totschlags zu einer Jugendstrafe von viereinhalb Jahren verurteilt. Zwei weitere junge Männer im Alter von 17 bzw. 18 Jahren erhielten Haft- und Bewährungsstrafen von dreieinhalb Jahren beziehungsweise acht Monaten, vier weitere Beteiligte wurden nicht angeklagt.

Der Mord an Silvio Meier und die Kritik am Versuch, Täter und Opfer umzudeuten, war auch Thema im Berliner Abgeordnetenhaus. Irena Kukutz vom »Neuen Forum« sagte in der Woche nach dem Ereignis: »Ich weiß endlich, in welchem Land ich nun wirklich angekommen bin, drei Jahre nach dem Untergang der DDR. Ein Freund meiner Söhne wurde erstochen. Und immer noch macht Herr Landowsky (damaliger Vorsitzender der Berliner CDU-Fraktion, jW) leichtfertig und verantwortungslos ein Gleichheitszeichen zwischen rechten und linken Gewalttätern, zwischen Eierschmeißern auf Politikerfräcke und vorsätzlichen Brandstiftern und Mördern. (…) Auf die Komplizen des wiedererwachten rechten Terrors in der Presse, in der Polizei, in der Politik sollten wir mit dem Finger zeigen und das Gerede vom Zusammenschluss der Demokratie nicht zur Farce werden lassen.«⁸

Am gleichen Wochenende, an dem Silvio Meier erstochen wurde, verübten junge Rechte einen Brandanschlag auf zwei Häuser in Mölln bei Hamburg. Es starben die drei Türkinnen Bahide Arslan, Ayse Yilmaz und Yeliz Arslan. Neun weitere Menschen wurden schwer verletzt.

Keine drei Wochen später wurde im Bundestag der sogenannte Asylkompromiss verabschiedet. Die Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP hatte sich mit der SPD auf eine weitgehende Abschaffung des Grundrechts auf Asyl verständigt. Die Zustimmung der Sozialdemokraten war notwendig, weil es sich um eine Änderung des Grundgesetzes handelte, für die im Bundestag eine Zweidrittelmehrheit notwendig war. Nun galt: Wer aus einem EU-Land oder aus einem als »sicherer Drittstaat« klassifizierten Land nach Deutschland einreist – das betraf alle Nachbarstaaten der BRD –, konnte sich nicht in allen Fällen auf das Recht auf Asyl berufen, sondern musste dieses im Transitland beantragen. Der rechte Mob hatte gesiegt. Die Zahl der Asylanträge fiel rapide von 438.000 Asylsuchenden im Jahr 1992 auf nur noch 127.000 Anträge 1994.

Glatzenpflege auf Staatskosten

Ebenfalls 1992 startete das CDU-geführte Bundesfamilienministerium ein Aktionsprogramm gegen Aggression und Gewalt. Die militante Rechte sollte mit jährlich 20 Millionen Mark befriedet werden. Das Geld gab es insbesondere für Jugendklubs, auch für solche, die von rechten Jugendlichen dominiert wurden. Während vielerorts linke oder nichtrechte Teenager aus Einrichtungen vertrieben wurden, konnten Jungnazis eigene Räume großzügig einrichten. Findige Faschisten nutzten Fördergelder zur Anschaffung von Musikequipment für Rechtsrockbands. Als »Glatzenpflege auf Staatskosten« bezeichnete dies die Zeit. »Ein falsch verstandenes Konzept ›akzeptierender Jugendarbeit‹ vermittelte gewalttätigen Jugendlichen Anerkennung und Bestätigung.«⁹

Anmerkungen

1 Dietmar Wolf: Hoyerswerda, Mannheim-Schönau, Rostock-Lichtenhagen, in: Telegraph Nr. 126/127 (2012)

2 Yok: Nichts bleibt, Mainz 2019, S. 138

3 Ebd.

4 Ulrich Peters: Unbeugsam und Widerständig. Die radikale Linke in Deutschland seit 1989/90, Münster 2014, S. 114

5 »Ein rassistisches Pogrom in Quedlinburg«, Antifainfoblatt Nr. 20 (1992)

6 »Nach Rostock-Lichtenhagen – Massenbasis für Neonazis«, Antifainfoblatt Nr. 20 (1992)

7 Wolfgang Rüddenklau: Jörn F. zum Mordanschlag auf sich und seine Freunde, in: Telegraph Nr. 12 (1992), S. 6–8

8 Irene Kukutz: Aufwachen, es ist an der Zeit, in: Antifainfoblatt Nr. 21 (1993)

9 Toralf Staud/Johannes Radke: Neue Nazis, Köln 2012, S. 62


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Anm.:

a) "akzeptierende Jugendarbeit": Der NSU stammt - wenig zufällig! - genau aus dieser Sozialwirtschafterei.

b) "gegen Aggression und Gewalt": Das war schon seit je eine Stillhalteformel gegen links. Sehen wir uns vor, wenn einfach gegen Gewalt gepredigt wird!

c) Mancherorts - z.B. Göttingen - ist das FAP-Straßenfaschismusproblem etwas früher (~89/90) unter den speziellen lokalen Bedingungen umgebogen - die Nazis waren ab dem 17. Nov. 89 (Bullenmord an Conny Wessmann) in einer strategischen Defensive - , aber nicht beendet worden (Mord an Alex Selchow in der Silvesternacht 90/91). Auch wenn der "Anschluß Ost" die Lage lokal entspannt haben mag: Die Mord- und Pogromwelle 1992 war ein westliches wie östliches Phänomen (unabhängig von der medialen Rezeption); Göttingen-Stadt war aber damals bereits fast schon so etwas wie eine zona antifascista - etwas übertrieben, aber der Tendenz nach. Ein Mord, wie der an Silvio Meier, kam uns damals schon hochnäsigerweise als eine Art Anachronismus vor; noch drei Jahre vorher wäre er im Bereich des täglich zu Erwartenden gewesen. - Sowas geht, wenn man gute antifaschistische Bündnisarbeit macht, und wenn man sich nicht irremachen läßt, was den gezielten Einsatz gewaltsamer Mittel angeht. - Es geht grundsätzlich! Es wird auch wieder gehen müssen!

NEUER BEITRAG21.11.2022, 15:47 Uhr
Nutzer / in
arktika

Guter Beitrag, der die damalige Situation treffend beschreibt. Auffällig - damals wie heute - die (staats-)mediale Unpolitisierung der Morde u. Angriffe der FaschistInnen, Stichwort "verfeindete Jugendgruppen"; die Gleichsetzung rechts=links und die lächerlichen Strafmaße, wenn doch mal ein paar Nazis verknackt werden mußten. Ein paar Arbeitsstunden oder mal eine Bewährungsstrafe war die Regel, nur in ganz wenigen Fällen gab es tatsächlich mal eine (i. d. R. auch nur max. 3-4jährige) Knaststrafe - nicht schlecht für Tötungsdelikte, von denen die Mehrzahl auch noch eindeutig sogar nach BRD-Strafrecht 'Morde' waren.

Ein leichtes Umlenken der öffentlichen Meinung gab es tatsächlich nach dem Dreifachmord von Mölln. Denn hier hatte es offenkundig "nützliche" AusländerInnen getroffen, nämlich Frauen, die als Putzfrauen schufteten. Und da hatten es die Nazis dann übertrieben: Der ("Kanaken"-)Rest ist ja egal, aber unsere Putzfrauen, denen darf nichts geschehen. Wer soll schließlich sonst unseren Dreck wegmachen, etwa wir selber??? - Unerhört!
So war das leider.
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