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Der Vorstand eines größeren Unternehmens beschließt, „an die Börse zu gehen“. Die Voraussetzungen sind viel versprechend: Elektronik-Branche, auf dem Weltmarkt gut situierter „global player“, moderne Fertigungen an mehreren europäischen Standorten mit starker Tendenz in „Billiglohn-Länder“. Die Belegschaften in Deutschland – ca. 4.000 Kolleginnen und Kollegen – sind durch erfahrene Betriebsräte gut vertreten (man hat längst gelernt, dass Kompromisse zum Leben gehören!) Auftragseingang und Umsatz wachsen um rund 60% und die Mitarbeiter sorgen in 21 Schichten pro Woche für eine hohe Rendite der kräftigen Investitionen.

Als Ausgabekurs werden 35 Euro festgesetzt. Die Belegschaft darf sich bis zu einem bestimmten Höchstbetrag an der Erstemission beteiligen und erhält darüber hinaus ein festes Kontingent an Belegschaftsaktien.

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Schon Wochen vor dem großen „Börsengang“ („we go public“ strahlen drei Models von DIN A1 Hochglanzpostern) wird spürbar, wie das Fieber kommt. Die Angestellten mit Internet-Anschluss holen sich die Börsen-news auf den Desk-top und in den Raucherecken finden erste Sondierungsgespräche statt: „Na, und du, wirst du auch Großaktionär?“ In der Fertigung bringen die Kollegen noch „Ausgabekurs“ und „Nennwert“ durcheinander. Aber das ändert sich umso schneller, je näher der große Tag rückt. Depot-Kosten werden diskutiert, Insider-Informationen und deren Missbrauch sind kurzfristig heißes Thema („das war doch der Grund, warum der Gewerkschaftsfritze – na, du weißt schon, der ... – warum der hat gehen müssen. Da kann der den ganzen Gewinn allein kassieren. Das geht ja auch nicht.“) Ein Werkstattmeister wundert sich: früher haben die in der Pause die Überschriften von der „Bild“ gelesen, jetzt kommt neulich einer mit der deutschen „financial-times“ und will wissen, was der „DAX“ ist.

Dann darf man endlich kaufen! 40% der Arbeiter und 70% der Angestellten sind nun endlich Aktionäre und „spekulieren an der Börse“. Das heißt, sie diskutieren über Spekulationsgewinne. Die aktuelle Kursentwicklung ist Tagesgespräch wie früher die Fußballergebnisse. Man ist dabei! Man macht Geld an der Börse! Einige haben überhaupt den ganz großen deal gemacht: sie haben das Geld für den Aktienkauf bei der Bank aufgenommen (bei dem Firmennamen war das gar kein Problem). Der Kursgewinn sollte dann locker für Kreditrückzahlung und mindestens 50.000 Reingewinn reichen. „Wo wir doch fast die Nummer 1 sind, auf dem Weltmarkt.“

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Nur wenige haben gefragt, wo das Geld eigentlich herkommen soll, an dem sie jetzt so segensreich beteiligt sein würden, wie die Kurse zu Stande kommen oder gar, ob man da auch verlieren kann.
Aber die Kurse stiegen wirklich. Langsam aber stetig kletterten sie auf knapp 184 Euro. Die Euphorie kletterte mit. Einige trauten dem Frieden nicht mehr und verkauften bei 150 und wurden leise belächelt, die Vorsichtigen. Die vereinzelten „Unverbesserlichen“, die von Anfang an erklärt hatten, dass man wissen müsse, wo man hingehört und dass bei dem Spiel nur die Banken und die Unternehmen wirklich gewinnen, waren längst verstummt. Nur ein Betriebsrat fragte die Kollegen ab und zu, ob sie jetzt in der nächsten Tarifrunde eigentlich gegen Lohnerhöhungen seien. Es sei schließlich bekannt, dass bei einem guten Tarifabschluss die Börse sofort stocksauer reagiert, weil die Gewinnerwartungen sinken. Dann fallen die Kurse in der Regel. Dann muss in Zukunft vielleicht der Steuerberater ausrechnen, wofür sich die Kollegen entscheiden, für höhere Tariflöhne oder für steigende Aktienkurse.

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Dass Vorstand und Betriebsleitung das neue „Wir-Gefühl“ begrüßten und förderten, war offensichtlich. Von nun an war nicht mehr „der Markt“ das große anonyme Ungeheuer, dem alle Belegschaftsinteressen geopfert werden mussten um der rettungslosen Vernichtung zu entgehen, von nun an spielten diese Rolle „die Analysten“. Na, und wie werden die wohl reagieren, wenn der Betriebsrat Sonderschichten an Feiertagen ablehnt und damit einen Kunden verprellt, weil eine Lieferung zu spät kommt. Nicht, dass man von den Typen je hätte einen fragen können, wie auch, die kennt doch keiner, – die Vorstellung, was diese geheimnisvollen Supergehirne laut denken könnten, war Drohung genug.

Bei besagten 184 Euro war dann Schluss mit lustig. Der Kurs ist, wie man in Fachkreisen zu sagen pflegt, einfach weggebrochen. In wenigen Tagen fiel der Kurs auf 140, kurzes Dümpeln bei 130, dann 100 und jetzt unter 70. Es war nichts weiter passiert, als dass die Investment-Fonds den Höhepunkt offensichtlich für erreicht hielten und ihre Anteile mit dem entsprechenden Gewinn verkauften.
[file-periodicals#49]Den Zeitpunkt konnten die Kolleginnen und Kollegen natürlich nicht ahnen. Und während der Kurs immer weiter fiel, konnte man auch nicht verkaufen, denn das weiß schließlich jeder, dass man an der Börse auch einmal Geduld haben muss. Jetzt warten sie auf bessere Zeiten, und wenn die Nächste größere Anschaffung fällig wird, bleibt den meisten nichts anderes übrig, als zum aktuellen Tageskurs zu verkaufen, Gewinn hin oder her.
Den Vorstand muss die Sache sehr amüsiert haben: die Investment-Fonds hätten den Rahm abgeschöpft, dafür sei dann der „deutsche Kleinanleger“ eingestiegen. Der werde halt immer erst wach, wenn es vorbei sei, äußerte sich einer der Herren belustigt.
Einige Kollegen mussten jetzt erschreckt feststellen, dass auf ihren Kreditanträgen bei der Bank doch der eigene Name gestanden hat und der „gute Name der Firma“ bei der Kreditrückzahlung keine Rolle mehr spielte.

Es ist auch anzunehmen, dass sich bei der nächsten Tarifrunde die meisten Kollegen für Lohnerhöhungen entscheiden werden. Die können wir selbst beeinflussen, die „brechen nur weg“, wenn wir „wegbrechen“.

hl


 
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